Kalt oder einfach nur ehrlich? Warum viele Deutsche reserviert wirken – und was wirklich dahintersteckt

An der Supermarktkasse versuchst du mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht Smalltalk mit der Person an der Kasse zu führen. Leider tragen deine Versuche keine Früchte. Statt ein paar netten Plänkeleien erntest du kurze Sätze und hochgezogene Augenbrauen. Ist dir das vielleicht auch schon einmal passiert? Nicht nur wegen der komplizierten Bürokratie hat Deutschland bei vielen Expats einen schlechten Ruf. Einen entscheidenden Teil trage auch die “Unfreundlichkeit” der Bewohner des Landes bei. In einer Umfrage zu den attraktivsten Standorten für Expats belegte Deutschland nur Platz 49. Von insgesamt 53 Plätzen. 

Auch wenn sich das Klischee der gefühlskalten Deutschen hartnäckig hält, es trifft noch lange nicht auf alle zu. In vielen Fällen hilft es auch, den kulturellen Kontext besser zu verstehen, um ein realistisches Bild zu bekommen und Missverständnisse zu vermeiden. Genau das wollen wir hier angehen. 

Eine Gruppe Freunde von Deutschen und Expats stößt zusammen mit Bier an

Woher stammt das Klischee der „kalten Deutschen“?

Zugabteile, in denen man die Stille geradezu schneiden kann. Ungläubige Blicke, wenn man unbeabsichtigterweise etwas falsch macht. Einladungen oder Annäherungsversuche lassen auf sich warten. Was viele Expats mit Erstaunen von ihrer ersten Zeit in Deutschland berichten, zeichnet zunächst einmal kein positives Bild. Die Deutschen sind nicht gerade als gastfreundlich bekannt. 

Hier lohnt es sich jedoch, genauer hinzusehen. Häufig sind Situationen, die Außenstehende als unhöflich oder kühl empfinden, von kulturellen Missverständnissen geprägt. Beispielsweise sind Begrüßungen in Deutschland meist kurz und sachlich gehalten. Auch Small Talk spielt im Alltag eine geringere Rolle als in vielen anderen Ländern. Diese zurückhaltende Art wirkt auf viele Zugezogene ungewohnt.

Viele Filme, Serien und internationale Medien verstärken zudem das Klischee vom kühlen, regelverliebten Deutschen zusätzlich. Doch wie bei jedem Stereotyp lohnt sich ein zweiter Blick. Denn hinter der formellen Fassade verbergen sich oft echte Hilfsbereitschaft und Verlässlichkeit.

Privatsphäre als zentraler Wert in Deutschland

Die Privatsphäre ist für viele Deutsche ein wohlbehütetes Gut und wird sogar im Grundgesetz geschützt. Da Überwachung ein großes Kapitel in der deutschen Geschichte ausmacht, hat der Schutz vor ungewollten Eingriffen einen hohen Stellenwert. 

Der Wunsch nach klaren Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Leben ist daher bei vielen Deutschen stark spürbar.

Diese Haltung zeigt sich im Alltag deutlich: etwa im Wohnhaus, wo höfliche Distanz zu Nachbar*innen üblich ist, oder am Arbeitsplatz, wo persönliche Themen seltener angesprochen werden. Auch im öffentlichen Raum ist Zurückhaltung oft erwünscht. Lautes Telefonieren oder neugierige Fragen gelten schnell als unangebracht.

Was bedeutet „Privatsphäre wahren“ konkret?

In der Kommunikation zeigt sich dieses Bedürfnis in kurzen, sachlichen Gesprächen – Small Talk bleibt meist oberflächlich, tiefere Gespräche entwickeln sich mit Vertrauen. Eine Einladung nach Hause ist deshalb ein klares Zeichen persönlicher Wertschätzung. Auch die Wahl zwischen „Du“ und „Sie“ spiegelt den Wunsch nach klarer Abgrenzung wider. 

Wirst du von Einheimischen “geduzt”, ist das oft eine richtige Adelung. Du bist nun in den inneren Kreis vorgedrungen. Mit “Sie” wahrst du hingegen die professionelle Distanz. Das ist zum Beispiel auf der Arbeit besonders wichtig. 

Effizienz + Struktur = Kälte?

Das folgende trifft natürlich nicht auf alle Deutschen zu. Jedoch stimmt es, dass Effizienz, eine klare Struktur und Pünktlichkeit Werte sind, die tief in der deutschen Kultur verankert sind. Wenn man das im Hinterkopf behält, dann wirken viele Szenarien, die zuvor als abweisend wahrgenommen wurden, gar nicht mehr so einschüchternd. 

Die oft als “kalt” wahrgenommene Kommunikationsweise, bei der Smalltalk oft kurz gehalten wird, soll beispielsweise nicht Desinteresse oder Distanz suggerieren. Wahrscheinlicher ist es, dass dein Gegenüber mehr Wert auf Effizienz legt und aus Respekt kurz antwortet, damit ihr beide eurem Alltag nachkommen könnt. 

Für Menschen, die aus Kulturen kommen, in denen Smalltalk verwendet wird, um Wohlwollen zu zeigen, finden das am Anfang oft etwas seltsam. Solche Gesten werden in Deutschland häufig anders gezeigt. Zum Beispiel durch tiefsinnige Gespräche bei Verabredungen. Es mag zwar schwieriger sein, einen Anfangspunkt zu finden, ist die erste Schwelle aber einmal überwunden, entstehen oft sehr loyale Freundschaften.

Erfahrungen von Migrant:innen – Zwischen Klischee und Realität

Die Vorstellung von „den kalten Deutschen“ begegnet vielen Migranten schon vor der Ankunft. Doch in Online-Foren wie Reddit findet man auch andere Eindrücke. Viele Zugezogene berichten, dass sie nach anfänglicher Skepsis sehr freundlich aufgenommen wurden und sogar solide Freundschaften schließen konnten: 

„Als ich Ende 2022 nach Deutschland kam, hieß es, die Deutschen seien kalt … Jetzt weiß ich: Ich habe hier echte Freunde gefunden.“ – Reddit-Nutzer

Freundschaft wird in Deutschland als echtes Commitment verstanden. Lockere Kontakte und oberflächliche Bekannte gibt es zwar auch, sie werden aber häufig nicht so gepflegt wie ein paar enge Freundschaften.

Was sich immer wieder abzeichnet, ist auch, dass viele Menschen die sehr direkte Art der Deutschen zuerst als schroff empfinden und später zu schätzen wissen: 

„In Deutschland weiß man, woran man ist – auch wenn’s anfangs hart wirkt.“ – Amerikanischer Reddit-Kommentar

So gelingt der soziale Anschluss trotz kultureller Unterschiede

Ist es also wirklich so schwer, in Deutschland Freunde zu finden? Eine klare Antwort gibt es nicht. Schließlich ist jeder Mensch und jede Situation anders. Breit gesprochen kann man sagen, wenn man kulturelle Unterschiede zu lesen weiß, wird vieles leichter. 

Entscheidend ist häufig, den Dingen Zeit zu geben. Nur weil jemand nicht von Anfang Feuer und Flamme ist, heißt das nicht, dass man mit einer Ablehnung zu rechnen hat. Viele Freundschaften in Deutschland wachsen langsam und schlagen tiefe Wurzeln. Versuche behutsam vorzugehen und zeige Freundlichkeit: Ein Lächeln, eine Einladung zum Kaffee oder eine helfende Geste sind hier oft mehr wert als viele Worte.

Ein guter Startpunkt für echte Kontakte sind Orte, an denen man sich regelmäßig trifft: Sprachkurse, Sportvereine, Ehrenamt, Nachbarschaftsprojekte oder auch gemeinsames Gärtnern. Hier entstehen Gespräche nicht aus Höflichkeit, sondern aus gemeinsamem Tun.

Fazit – Weniger Kälte, mehr Klarheit

Viele Deutsche legen Wert auf Klarheit, Verlässlichkeit und persönliche Grenzen. Abstand wird dabei nicht aus Ablehnung gewahrt, sondern eher aus Respekt. Sobald du diese kulturellen Feinheiten verstehst, kannst du gelassener auf zurückhaltendes Verhalten reagieren. Je entspannter du bist, desto leichter wird es dir fallen, erste Kontakte zu schließen. 

Was laut Bundesregierung als Schlüssel zur Integration in Deutschland gilt, ist die Sprache. Freundschaften zu schließen, wird so viel leichter, wenn du Deutsch sprechen und verstehen kannst. Versuche am besten so viel wie möglich zu sprechen. Allein der Versuch wird dir bereits hoch angerechnet werden, weil es zeigt, dass du ehrlich interessiert bist.

Erlebe Sprachenlernen neu – Lingoda

So funktioniert's
Lea Hauke

Lea Hauke

Lea ist freiberufliche Texterin und Übersetzerin für Deutsch und Englisch und lebt in Österreich. Neben ihrer Liebe für Bücher begeistert sich die Literaturwissenschaftlerin für Musik und schreibt unter anderem für verschiedene Musikmagazine. Während ihrer Zeit in Berlin war sie Sängerin und Schlagzeugerin einer Punkband. Nach dem Umzug von Berlin nach Tirol hat sie sich selbstständig gemacht und hilft seitdem anderen dabei, für ihre Projekte und Ideen die richtigen Worte zu finden. Erfahre mehr dazu auf ihrer Website und auf LinkedIn.